Am Freitag Vormittag war es endlich so weit. Das lang ersehnte Ablegen aus Las Palmas, wo die Arrya nun mehr als 3 Wochen gelegen hatte, stand an. Das Boot war in einem selten guten Zustand, wir mussten nur noch volltanken und uns die Ausreisestempel in den Pässen besorgen. Dann ging es los. Wir verließen den Hafen mit der Gewissheit, erst etwa zweieinhalb Wochen später in der Karibik wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Alle waren ein bisschen aufgeregt. Vince und Tim ha tten den Atlantik damals zwar schon mit der Eira bezwungen, doch mit dem neuen Boot standen auch neue Herrausforderungen an. Außerdem war der 31. Januar als Ablegedatum für eine Atlantiküberquerung schon verhältnismäßig spät und wir hatten die Befürchtung, dass der Passatwind auf Äquatorhöhe nicht mehr ganz so zuverlässig pusten würde.
Die Aufregung legte sich allerdings schnell, da wir anfangs kaum Wind hatten und die Ostküste von Gran Canaria entlangmotorten.
Nach einem leckeren Abendessen und einem nicht allzu spektakulären Sonnenuntergang brach auch schon die erste Nachtwache an. Da der Wind noch immer nicht reichte um die Segel zu setzten verlief die erste Nacht weniger aufregend mit laufendem Motor und dem endlich wieder funktionierendem Autopiloten.
Obwohl die Nacht nicht besonders anstrengend gewesen war, war ich dennoch sehr froh mit einem Sonnenaufgang belohnt zu werden, der den Himmel in allen erdenklichen Farbspektren beleuchtete.
Tim löste mich morgens ab und ich legte mich wieder in meine Koje.
15 Knoten Raumwind waren die perfekten Bedingungen, um das Oxley zu hissen.
Mit einem Mikroplastikfilter, den wir zuvor selbst entwickelt und gebaut hatten, wollten wir einige Testmessungen auf dem Atlantik vornehmen, um die Verunreinigung unserer Ozeane visualisieren zu können. Da wir die Kraft, die auf das Material einwirkte unterschätzt hatten, brach die erste Konstruktion und wir mussten den Filter bergen. Nach ein paar Optimierungen ließen wir den Filter wieder ins Wasser und behielten ihn für genau zehn Seemeilen drin. Obwohl ein Großteil des Mikroplastiks in den Ozeanen nach kurzer Zeit in die Tiefe sinkt kratzten wir zwischen Algen dennoch einige Partikel aus dem Netz heraus. Im Laufe der Atlantiküberquerung wiederholten wir verschiedene Messungen über jeweils zehn Seemeilen und werteten sie am Ende aus.
Mit dem Einholen des Filters bekam das Boot fast einen Knoten mehr fahrt. Das Meer war ziemlich ruhig, der Himmel wolkenlos, das Oxley hing im Wind wie eine Eins und die 7 Knoten Fahrt standen wie einbetoniert auf dem Plotter.
Wir spielten Karten, kletterten auf dem Baum herum und konnten gar nicht fassen, wie angenehm und stressfrei das Segeln ab und zu sein kann. Als wir abends mit einem Bier auf den ersten perfekten Segeltag anstießen, erwähnte Tim beiläufig, dass er an dem Tag Geburtstag hätte. Niemand von uns hatte daran gedacht und auch Tim meinte, dass er es selbst fast vergessen hätte.
Also stießen wir auf Tims Geburtstag an und sahen der Arrya dabei zu, wie sie begleitet von einer großen Gruppe Delfine über die kleinen Wellen dahin in den Sonnenuntergang ritt.
Am zweiten morgen hat sich am Ende meiner Nachtwache eine merkwürdige Situation zugetragen. Kurz nach Sonnenaufgang sah ich am Horizont ein anderes Boot, das ich zunächst für einen von vielen Frachtern hielt, nichts untypisches vor der afrikanischen Küste. Als ich auf dem AIS schauen wollte, wo es herkommt, musste ich feststellen, dass es nicht eingezeichnet war. Ich wunderte mich kurz, aber dachte mir weiter nichts dabei. Nach einer Weile stellte ich fest, dass es uns immer näher kam und ich probierte mit einem Fernglas mehr über das Boot herauszufinden. Es war kein Frachter, sondern ein ziemlich altes heruntergekommenes vermutlich senegalesisches Fischerboot. Als es noch etwa zwei Seemeilen von uns entfernt war, drehte es ein bisschen und änderte seinen Kurs so, dass es genau auf uns zusteuerte. Ich wecke Tim und in mir stieg ein sehr ungutes Gefühl auf. Zwar hatte ich noch nie von Piraterie in dieser Gegend gehört, doch es musste ja immer ein erstes Mal geben, so dachte ich in diesem Moment. Zu meiner weiteren Beunruhigung konnte mir Tim diese Angst nicht nehmen und schien auch etwas nervös. Wir waren schon ziemlich weit draußen, auf Höhe des afrikanischen Landes Mauretanien zwischen Marokko und dem Senegal. So weit das Auge reichte nur Wasser und eben ein heruntergekommener Kutter ohne AIS-Kennzeichnung, der nun keine Seemeile mehr entfernt war und sich auf Kollisionskurs mit der Arrya befand. An Deck konnte ich den Umriss von fünf Männern erkennen, die mit den Armen herumfuchtelten und in unsere Richtung zeigten. Mittlerweile war ich mir fast sicher, dass wir Probleme bekommen würden, sodass ich insgeheim nur darauf wartete, dass die Männer Maschinengewehre zückten und mit einem kleinen Speedboot die Arrya enterten. Tim wollte mich beruhigen, konnte allerdings auch keinen anderen Grund finden, warum der ominöse Kutter genau auf uns zukam.
Als sie nur noch etwa zweihundert Meter entfernt waren, sahen wir eine Fischerboje direkt vor uns und mit einem Schlag viel die Angst ab. Es handelte sich tatsächlich nur um einen normalen Fischkutter, der sein Netz einholen wollte und aus welchem Grund auch immer nicht auf dem AIS erschien. Wir wichen der Boje aus, der Kutter wurde langsamer und zog schließlich ein riesiges Netz gefüllt mit Fischen an Bord. Wir atmeten erleichtert auf und die Distanz zwischen den beiden Booten vergrößerte sich wieder.
Noch immer war das Meer ziemlich ruhig, der Himmel war blau und die Arrya marschierte bei wenig Wind elegant durch die kleinen Wellen. Die Nachmittagssonne knallte auf das Boot und verwandelte den Innenraum in eine Sauna. Vince hatte die Idee, sich mit dem Maststuhl an einer verlängerten Fall festzumachen und sich von außen an die Bordwand kurz über die Wasseroberfläche zu hängen. Er stieß sich mit seinen Füßen ab, pendelte ein paar Meter über das Wasser und landete mit beiden Beinen wieder fest an der Bordwand. Nach ein paar Minuten hatte er genug und wir tauschten. Während ich da so hing und mit einer Hand ins Wasser eintauchte, sah ich ein paar Meter neben mir einen Delfin aus dem Wasser springen. Unter mir tauchte plötzlich eine ganze Delfinschule auf. Abwechselnd sprangen sie direkt neben mir aus dem Wasser oder tauchten so unter mir durch, dass ich sie hätte berühren können. Es war ein einzigartiges Gefühl, diese wunderschönen Wesen so aus der Nähe zu sehen.
Nach ein paar Tagen auf See hatten wir schließlich auch mal Angelglück. Wir zogen unseren ersten Thunfisch aus dem Wasser, den Vali sogleich zerlegte und uns das zarte Filet präsentierte. Einen Teil aßen wir roh, gedippt in Sojasauce, den Rest brieten wir an und verkochten ihn in einer geschmackvollen Sauce.
Am vierten Tag war der Wind auf seinem Tiefpunkt und wir hatten absolute Flaute. Tim hatte deshalb die Idee, schwimmen zu gehen. Also holten wir alle Segel ein und in Zweierteams sprangen wir über Bord ins tiefe Blau. Obwohl wir tatsächlich keinen Wind hatten, trieb die Arrya durch die kleinen Wellen ein bisschen davon. Man musste also zusehen, nicht den Anschluss zu verlieren und hinter dem Boot her schwimmen. Das Boot aus dieser Perspektive zu sehen kann ein ziemlich beunruhigendes Gefühl sein, mit dem Wissen, dass vier Kilometer unter einem einfach nur Wasser ist. Die Jungs warfen mir eine Taucherbrille zu und forderten mich auf, mal nach unten zu schauen und ein bisschen umherzutauchen. Verschwommenes tiefes Blau, soweit das Auge reicht. Man konnte die Sonnenstrahlen sehen, die wie Säulen hunderte Meter in die Tiefe ragten und sich in den unterschiedlichen Wasserschichten immer wieder brachen. Ein einzigartiger Anblick der mir in diesem Moment klar machte, wie glücklich und dankbar ich war, diese Reise angetreten zu sein.
Die anfangs erwähnten Mikroplastikmessungen führten wir jeden Vormittag über eine Distanz von zehn Seemeilen durch mit mal mehr und mal weniger Partikeln im Filter.
Während Tim an Deck unseren Müll sortierte viel ihm ein leerer Wassercontainer aus der Hand und rutschte unter der Reling hindurch direkt ins Meer. Da wir unmöglich einfach weitersegeln konnten nutzten wir die Gelegenheit zu einer spontanen Mann-über-Bord-Übung. Jetzt musste alles blitzschnell gehen. Der Motor wurde gestartet und das Vorsegel eingeholt, während einer am Heck der Arrya stand und die Aufgabe hatte, das Objekt nicht aus den Augen zu verlieren. Obwohl die See noch immer sehr ruhig war, war dies keine Leichtigkeit. Hinter den Wellenbergen verschwand der Kanister und tauchte kurze Zeit später wieder auf. Vince übernahm das Steuer und begann die Arrya zu wenden, während Tim sich mit einem Bootshaken am Vorderdeck bereitmachte nach dem Kanister zu angeln. Als ich den Kanister so aus der Ferne sah, lief es mir kalt den Rücken herunter. Mir wurde klar, dass es bei nicht ganz so optimalen Bedingungen ein Ding der Unmöglichkeit wäre, eine über Bord gegangene Person zu retten. Doch langsam näherten wir uns dem Kanister wieder und starteten den ersten Anlauf. Ein paar Zentimeter fehlten zwischen Bootshaken und Kanister, sodass wir erst beim dritten Anlauf unseren über Bord gegangen Passagier bergen konnten.
Schließlich drehten wir wieder auf Kurs und setzten Segel.
Als ich eines morgens noch verschlafen in meiner Koje lag, wurde ich von Tims Ausruf „Wale in Sicht“ aus meinen Gedanken gerissen. Sofort stürmte ich an Deck, um die Riesen der Meere einmal mit eigen Augen zu sehen. Knappe 30 Meter neben uns tauchten direkt hintereinander zwei verschiedene Walrücken aus dem Wasser, die etwas Wasserdampf ausstießen und sogleich wieder in der Tiefe versanken. Wir rätselten, um welche Exemplare es sich wohl gehandelt hatte, waren uns aber letztendlich nicht ganz sicher; gut möglich, dass es Finnwale, die kleinen Geschwister der Blauwale, waren.
Natürlich war die beobachtete Szene an sich nicht allzu spektakulär und trotzdem war ich in diesem Moment überglücklich, diese anmutigen Wesen direkt vor mir mit eigenen Augen gesehen zu haben. Wir tauften sie Fridolin und Ferdinand und hofften, dass sie uns noch ein bisschen begleiten würden.
Eine Woche war vergangen seit wir den letzten Zipfel Land gesehen hatten und auf der Arrya kehrte ein bisschen Ruhe ein. Zwar gingen uns die Gesprächsthemen nicht aus, doch wir alle waren mehr und mehr ins Lesen vertieft. Wenn einem der Zugang zum Internet verwehrt ist, die heruntergeladenen Filme geschaut und die Musikbibliothek rauf und runtergehört wurde, dann greift man endlich mal wieder zum Buch.
Zuerst las ich ein Buch über Philosophie des deutschen Philosophen und Autors Richard David Precht für dessen Gedanken ich mir am Vordeck unseres Kahns viel Zeit nahm. Später tauchte ich in die Abenteuergeschichten des Aussteigers Wolfgang Clemens ein, der von seiner ersten Weltumseglung mit einem selbst gebauten Boot berichtete. Da wir nach Beendigung einer Lektüre, die Bücher untereinander hin und her tauschten, boten die Inhalte genug Rede- und Diskussionsstoff. Wie lange es wohl her ist, dass ich mir in Deutschland das letzte mal soviel Zeit fürs Lesen genommen habe.
So langsam gingen unsere frischen Lebensmittelvorräte zur Neige. Außer ein paar Kartoffeln, Süßkartoffeln und Bananen war alles Obst und Gemüse aufgenbraucht, also stiegen wir nach uns nach auf unsere Vorräte aus Konservendosen um. Auch das viele Brot, das wir vor Antritt der Überfahrt von einem Bäcker in Las Palmas geschenkt bekommen hatten, war zu diesem Zeitpunkt aufgegessen oder so hart, dass man Fensterscheiben damit hätte einschlagen können.
Deshalb stiegen wir um auf selbst gebackenes Brot, das zu meiner Verblüffung sehr fluffig und schmackhaft wurde. Wasser, Vollkornmehl, Trockenhefe und Salz kneteten wir zu einem Teig zusammen, den wir mit Sonnenblumenkernen, Walnüssen, Sesam und Chiasamen bedeckten. Nach etwa einer Stunde im Ofen hatten wir ein Brot, das man so auch gut bei einem Bäcker hätte kaufen können.
Selbst nachdem wir über tausend Seemeilen vom Festland entfernt waren, begegneten uns auf dem Atlantik immer wieder Vögel. Meistens jedoch keine großen Vögel, die zielstrebig in eine Richtung flogen, sondern eher kleinere, die praktisch keine Chance hatten gegen den stärker werdenden Wind anzukommen, und eher so wirkten, als ob sie orientierungslos herumirrten. Wir fragten uns, ob sie mit Absicht ihre Ozeanüberquerung angetreten hatten oder vom Wind heraus aufs Meer getragen wurden und nur noch so lange flatterten, bis ihnen Wasser, Nahrung und Energie ausging. Dagegen sprach jedoch, dass keiner der Vögel unser Boot als Zufluchtsort aufgesucht hatte, um sich ein bisschen auszuruhen.
Neben den bereits erwähnten Vögeln, Delfinen und Walen, sahen wir ab und zu Meeresschildkröten und Mondfische, bei denen ich mich immer fragte, wie sie den evolutionären Kampf ums Dasein überleben konnten. Die etwa einen Meter großen Mondfische taumelten mehr durchs Wasser, als dass man sagen könnte, sie würden wirklich schwimmen. Mit etwa einem halben Knoten Geschwindigkeit „stolperten“ sie manchmal an der Arrya vorbei.
In der zweiten Hälfte der Überquerung kamen dann auch noch Fliegenfische hinzu, die zu unseren ständigen Begleitern wurden. So anmutig es auch ist, ihnen beim aus dem Wasser springen und fliegen zuzusehen, so nervig ist es, die stinkenden Viecher jeden Morgen von Deck einzusammeln, da es immer wieder welche schafften, gegen den Mast oder die Wanden zu springen, um dann bewusstlos am Deck liegen zu bleiben. Auch ein kleinerer Tintenfisch klebte eines morgens an Deck. Da die vorherige Nacht ruhig gewesen war und eigentlich keine Welle übers Vordeck geschwabbt war, war uns schleierhaft, wie dieser seinen Weg dorthin gefunden hatte. Obwohl der Atlantik für den Menschen eine endlose Wüste darstellt, ist er schützenswerter Lebensraum unzähliger verschiedener Spezies, von denen wir auf unserer Überquerung nur einen Bruchteil zu Gesicht bekamen.
Nach etwa einer Woche guten Segelwetters, blauem Himmel und eher leichterem Wind, begann der Wind wie auch angekündigt stärker zu werden. Acht Beaufort und Windgeschwindigkeiten von 35 -40 Knoten ließen die Wellenberge wachsen. Da wir wegen des starken Windes nur unter Vorsegel fuhren und uns die Stabilität vom Großsegel fehlte begann auch schon das herumrollen. Die fünf Meter hohen Wellen führten zu dauerhafter Maximalkrängung zu beiden Seiten, was das Leben an Bord nicht angenehmer gestaltete. Die Tage und vor allem Nächte wurden anstrengender, da es schwierig war bei diesen Bedingungen Schlaf zu finden. Bei den Nachtwachen wurde man regelmäßig von einer ins Cockpit schwappenden Badewannenladung Salzwasser erwischt und auch tagsüber war die Zeit nicht allzu genießbar. Die Sonne ließ sich nicht mehr blicken und an Kochen war durch das dauerhafte herumrollen des Bootes eigentlich nicht zu denken. Jeder klemmte sich mit seinem Buch in irgendeine Ecke des Bootes, um nicht ständig der Schwerkraft zu Opfer zu fallen.
Erst nach ein paar Tagen ließ sich die Sonne mal wieder blicken. Wind und Welle wurden daraufhin auch ein bisschen erträglicher. Wir nutzten die Gelegenheit um im Cockpit zu viert ein paar Runden Karten zu spielen, unterhielten uns über besondere Träume der vorangegangenen Nächte und tauschten frühe Kindheitserinnerungen aus. Die lange Auszeit von überflüssigem Input hatte bei uns allen dafür gesorgt, dass wir nachts intensiver träumten und tagsüber in Phasen langer Trance Erinnerung der Kindheit, die man eigentlich schon vergessen glaubte, wiederkamen.
In der darauffolgenden Nacht wurde ich geweckt, als Vali verwirrt in den Innenraum stürzte und mitteilte, dass gleich zwei andere Segelboote in Sicht waren. Ein etwas weiter entfernter Katamaran und nur 0,2 Seemeilen neben uns, also unglaublich nah, das Boot „Naughty Girl“ eines Seglerpärchen, das ich bereits aus Las Palmas kannte. Die Jungs waren den mutigen Weltumseglern schon im Mittelmeer in Almerimar begegnet.
Wir funkten sie an und die Freude war groß, als sie merkten, dass es sich bei uns um die Segeljungs handelte. Sie teilten uns mit, dass sie genau wie die Girasole Sailing, eine österreichische Crew, die noch etwa 50 Seemeilen vor uns waren, Barbados anlaufen würden. Die spontane Regatta hatte begonnen.
Die letzten fremden Boote, die wir gesehen hatten, waren Containerschiffe vor der Afrikanischen Küste. Die Wahrscheinlich, mitten in der riesigen Meereswüste, noch über tausend Seemeilen vor Barbados auf andere bekannte Segler zu stoßen, deren Kurs wir nahezu schnitten, war also endlos gering.
Am nächsten Morgen hatte sich der Starkwind endgültig gelegt und um definitiv vor Girasole Sailing anzukommen hissten wir den Oxley, der uns einen Schnitt von knapp 9 Knoten bescherte. Da die Oxley-Schot an der aufgerollten Genua scheuerte, führten wir sie mit einem nach vorne abstehenden Spibaum um die Problemstelle herum. Um das Segel auf maximaler Performance zu segeln baumten wir die Schot zusätzlich noch seitlich mit einem Mini-Spibaum aus, sodass der Gleitschirm enorm unter Spannung stand, die auf dem gesamten Boot zu spüren war. Mit einem Schnitt von etwa zehn Knoten schossen wir über die Wellen hinweg. Doch es kam wie es kommen musste… Der bereits in die Tage gekommene Mini-Spi hielt dem enormen Druck nicht stand und mit einem lauten Knall zerbrach das Aluminium, wie ein abknickendes Streichholz. Zwar war Vince gerade auf dem Vordeck unterwegs, doch glücklicherweise hatten wir nur einen Materialschaden und er blieb unversehrt. Die Situation war schnell wieder unter Kontrolle und wir segelten zügig weiter in die bereits hereinbrechende Nacht.
Kaum erreichten wir eine Wassertemperatur von exakt 25 Grad, begannen auch schon die ersten Algenfelder das zuvor kristallklare Wasser zu säumen. Dennoch blieben die großen Algenteppiche, wie es sie im Vorjahr auf Grund einer Plage gegeben hatte, glücklicherweise aus.
Durch einen Schmerzensschrei schreckte ich am Folgetag aus meinem Buch hoch. Valentin, der versucht hatte, einen neuen Angelköder zu befestigen, war mit seiner Hand in den über der Angel angebrachten Windgenerator gekommen. Die messerscharfen Karbonrotoren gingen durch seinen Daumen wie Butter. Nachdem wir in seiner blutüberströmten Hand drei Schnitte ausmachten, von denen der eine deutlich tiefer war als die anderen beiden, verbanden wir die Wunde schnell mit einem Druckverband. Da wir noch mindestens sechs Tage auf See vor uns hatten, kontaktierten wir über das Satelitentelefon einen Arzt, der uns Arbeitsanweisungen gab. Zum Glück musste der Schnitt nicht genäht werden, also reinigten wir die Wunde gut und wechselten täglich den Verband. Glücklicherweise war die Verletzung schließlich doch nicht so schlimm, wie sie uns im ersten Moment erschien.
Die verbleibenden Tage auf der Arrya werden zwar immer weniger, gefühlt jedoch immer länger. Das Unterhaltungsprogramm bestehend aus Büchern, Filmen, Sport und Musik wird immer langweiliger, weil man auch davon irgendwann einfach genug hat. Jeder ist sich und seinen Gedanken ganz ausgesetzt, ein Zustand den ich aus dem Nachhinein betrachtet als sehr erholsam und reinigend betrachte. Lediglich das Essen ist ein treuer Begleiter und jede Malzeit wird zu einem besonderen Highlight des Tages.
Von unserem Wetterdienst war die Squirlgefahr eigentlich als gering eingestuft worden. Squirls, das sind kurzanhaltende, „aus dem nichts kommende“ Tropenstürme, die in Äquatornähe häufig auftreten.
Doch gegen Ende der Reise blieben wir schließlich doch nicht ganz verschont. Während einer Nachtwache übersah Vali die schwarze Wolke, die von hinten auf uns zurollte. Da wir noch immer das Oxley gehisst hatten, erwischte uns der Sturm auf dem falschen Fuß. Durch die plötzliche schlagartige Neigung des Botes wurde ich aus meinem Bett gerissen. Über 30 Knoten Wind zerrten auf einmal an dem Leichtwindsegel, dessen untere Kante durch die Bootsneigung bereits im Wasser hing. So schnell wie möglich legte sich Tim eine Rettungsweste an, klinkte sich auf dem Vordeck ein zerrte an dem Einholschlauch. Dabei machte er nur zentimeterweise Vortschritte, denn das Segel fiel bei diesem starken Wind nicht wie sonst in sich zusammen. Mit vereinten Kräften unter ohrenbetäubendem Flattern schafften wir es schließlich, die 200 Quadratmeter große Segelfläche sicher zu bergen. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte der Wind wieder deutlich abgenommen, sodass wir die Fahrt unter Genua fortsetzten.
Die letzten Tage zogen sich nochmal sehr hin. Ständig schaute ich auf den Plotter, um zu überprüfen, welche Distanz wir noch zu überwinden hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren auch Eier und Milch aufgebraucht, sodass das Essen kaum mehr Abwechslung bot. Zum Brotbacken gingen uns die Zutaten aus, sodass wir uns eigentlich nur noch von Konserven ernährten. Alle Paar Stunden schaute mal jemand von seinem Buch auf und meinte: „Ich freue mich soooo auf‘s ankommen!“
Barbados rückte langsam aber sicher immer näher. Es waren keine 300 Seemeilen mehr und so langsam begann ich zu realisieren, was für ein unglaubliches Abenteuer bald hinter uns liegen würde. Wir bewegten uns auf einer kleinen schwimmenden Insel quer über den Ozean, den Elementen Wind und Wasser ausgesetzt. Ein Blick auf die Karte zeigte, dass wir diese riesige blaue Fläche zwischen Europa und Amerika fast überwunden hatten, und zwar nicht mit einem Flugzeug, sondern mit Windkraft auf einem Segelboot.
Mein Kopf wurde geflutet von Glücksgefühlen und inspirierenden Gedanken. Die letzten Nachtwachen wurden zum Genuss. Ich bewunderte die unglaubliche Schönheit des Sternenhimmels und das gleichmäßige Geplätscher der Wellen. Minute um Minute hatte ich nicht nur das Gefühl, meinem Ziel endlich näher zu kommen, sondern auch mir selbst. Die zwei Wochen Abschottung haben mir sehr gut getan. Ich hatte Zeit, meine Kindheit und Jugend Revue passieren zu lassen und mehr Klarheit darüber zu gewinnen. Mit dem Transatlantik geht nicht nur ein Abschnitt meiner Reise zu Ende, sondern auch ein Abschnitt meines Lebens. Glücklich auf dieser Reise zu sein, blickte ich wieder auf in den Sternenhimmel, atmete die angenehme Seeluft tief ein und schaute ein paar Sternschnuppen beim verglühen zu. Das einzige was mich aus meinen Gedanken riss, war ein Fliegenfisch, der mein Gesicht buchstäblich nur um wenige Zentimeter verfehlte, und auf der gegenüberliegenden Bootsseite wieder ins Wasser glitt.
Kein besseres Boot und keine bessere Crew, als die Segeljungs, hätte ich mir für dieses Abenteuer vorstellen können. Ich bin sehr dankbar, in Gibraltar während meiner Bootssuche zufällig auf Tim, Vince und damals noch Tom getroffen zu sein, die mich einluden, dieses Abenteuer mit ihnen zu bestreiten. Glücklich über meine Erlebnisse der vergangenen Monate blicke ich nach vorne und entdecke am Horizont eine Lichtwolke. Es handelt sich um Barbados. Wir sind in der Karibik!
Hammer!! Da hätte ich auch mal richtig Lust drauf! Ist ein riesen Traum von mir.
Klingt richtig cool und voll schön geschrieben! Da kriegt man direkt Urlaubs-Kopfkino 🙂
Ließt sich Mega gut! Hat nochmal einen neuen Blickwinkel auf die Atlantiküberquerung geöffnet. Hat er noch mehr Artikel veröffentlicht?
Und: schicke neue Website!
Coole !!…ihr seid mutig richtige Abenteuer …..😉🍀😅🌻
Sehr fesselnd geschrieben.
Super klasse geschrieben. Liege in meiner Koje auf unserem Segelboot und lese diesen tollen Artikel. Das Video habe ich auch gesehen jedoch lesen ist was anderes. Aufregung und spannend zugleich. Wir mein Mann und ich sind auf Porto Santo bei Madeira.